Geschwindigkeitspotenzial: Liegeräder versus Aufrechträdern
Gründe für das höhere Geschwindigkeitspotenzial von Liegerädern im Vergleich zu Aufrechträdern.
Im Folgenden werde ich erläutern, inwiefern Liegeräder nicht nur ein höheres Geschwindigkeitspotenzial als Aufrechträder haben, sondern auch mehr Komfort und Sicherheit bieten. Die folgenden Aspekte werde ich dabei berücksichtigen.
1. Den Luftwiderstand
2. Die Biomechanik
3. Die Biodynamik und den Komfort
4. Die Sicherheit
1. Der Luftwiderstand
Ein wesentlicher Fahrwiderstand für Landfahrzeuge ist der Luftwiderstand. Jeder Radfahrer, der sein Fahrrad mit einem Tacho ausgestattet hat, wird beim Versuch zum Erzielen von höheren Geschwindigkeiten in der Ebene bemerkt haben, dass man sich ab ca. 30 Km/h ordentlich anstrengen muss.
Und bei 40 Km/h wird die Luft knapp. Nur trainierte Radsportler können längere Zeit in diesem Geschwindigkeitsbereich fahren. Der Grund hierfür liegt in dem mit dem Quadrat der Geschwindigkeit zunehmenden Luftwiderstand.
Wie auf der nebenstehenden Grafik gut zu erkennen, ist der Querschnitt eines Menschen auf einem Liegerad deutlich geringer, als der eines Menschen auf einem Aufrechtrad und sogar auf einem Rennrad.
Die Tabelle (links) zeigt die erreichbaren Geschwindigkeiten bei eingesetzten Leistungen von 110 und 160 Watt für die oben dargestellten Fahrzeugquerschnitte.
Zur Herkunft der Werte in der Tabelle: Die Kreuzotter-Arbeitsgruppe bestand aus Studenten der Technischen Universität München, die sich um besonders effiziente Liegeradkonstruktionen bemüht haben. Ihr Berechnungsverfahren ist unter kreuzotter.de im Internet verfügbar.
Die Aufprallfläche (Spalte 2) ist allerdings nur ein Faktor zur Ermittlung des Luftwiderstandes.
Auch die Form des Fahrzeuges, der Luftwiderstand-Beiwert, (Cw) hat erheblichen Einfluss auf den Luftwiderstand. Der Luftwiderstand ist also das Produkt aus Cw x A.
Wie die Tabelle gut zeigt, ergibt eine besonders strömungsgünstige Form einen besonders kleinen Luftwiderstand.
2. Die Biomechanik
Muskeln und Knochen der Beine und des Becken, wie sie beim Radfahren zur Wirkung kommen, hat im Jahre 1900 Prof. Dr. med. Schieferdecker ausführlich beschrieben.
Der Professor der Anatomie war begeisterter Anhänger der der Bewegung mit dem Fahrrad. Sein Buch trägt den Titel „Das Radfahren und seine Hygiene.“ Ein wesentliches Plus in diesem Werk für Nichtmediziner, alle medizinischen Fachbegriffe werden auf Deutsch geschrieben.
Einen leicht gekürzten Nachdruck dieses Werkes hat Hans-Erhard Lessing 1982 in seinen Buch „Fahrradkultur“ veröffentlicht. (rororo Sachbuch, ISBN 3 499 17664 5)
Hieraus stammen Abbildungsinspirationen zur Muskulatur und ihrer Wirkungsweise so wie die Illustrationen der Beinmuskulatur. Genau diese gilt es beim Radfahreneffizient einzusetzen.
In Kapitel VII untersucht Schiefferdecker wie die Arbeitsleistung des Radfahrers optimal in den Tretantrieb zu übertragen ist.
Weitgehend greift er dabei auf die Untersuchungen von Prof. Oskar Zoth zu. In seinem Aufsatz: „Ueber die Formen der Pedalarbeit“ setzt sich Zoth mit Untersuchungen aus England und Frankreich auseinander, die bereits bis 1899 veröffentlicht waren. Erste Pedale zur Leistungsermittlung werden erwähnt.
Die Betrachtung von Schieferdecke für den Radfahrer in aufrechter Haltung können nahezu komplett auf den Fahrer des Liegerades übertragen werden. Hier gilt sogar, je sportlicher (flacher) der Sitz - um so mehr gelten die Erkenntnisse von Schieferdecker.
Dies gilt im besonderem für die Wirkung des Herz-Kreislaufsystems und der Lungenfunktion. Dazu mehr unter Pkt. 3) Biodynamik.
Zeitgemäß befasst sich Zoth wesentlich mit der Tretarbeit auf dem „Gummipedal“ und dessen Optimierung durch Einsatz der Wadenmuskeln und Fußbewegungen. Zoth hat bei seinen Untersuchungen den negativen Einfluß des „Gegentrittes“ (Fuß in der Bewegung nach oben), detailliert nachgewiesen.
Diese Komponente der Beinarbeit reduziert beim Tritt in der Waagerechten ihren wirksamen Anteil deutlich stärker als beim senkrechten Tritt. Geht der Fahrer des Aufrechtrades bei extremen Belastungen und geringer Kadenz in den Wiegetritt, so wird der sich nach oben bewegende Fuß fast automatisch aktiv angehoben.
Anders beim Wagerechten Tritt. Der Liegeradsitz stützt direkt im Hüftbereich und trägt den Körper des Fahrers. Zwar kann ein Bein im Bereich der Kniewinkelveränderung* beim Treten eine Druckkraft erzeugen die der doppelten Gewichtskraft des Körpers entspricht, aber die Reduzierung der Kniewinkeländerung ist nicht möglich. Dazu kommt, der nach hinten geführte Fuß wird intuitiv gegen das Pedal gedrückt, um ihn am Abrutschten zu hindern.
Ein weiterer Unterschied des waagerechten Trittes ist: die Balance auf dem Senkrechtrad wird über die Pedale, den Oberkörper und Lenker erreicht das Liegerad vorwiegend den Lenker. Ein Fixpunkt in einigem Abstand ist notwendig, um in der Balance zu bleiben.
Für die Werte der Winkeländerungen übernimmt Schieferdecker die Feststellung von Bouny. Dieser hat bei einem mit ca. 35 Km/h auf der Rennbahn fahrenden Rennradler die folgenden Werte für die Winkeländerung der Gelenke festgestellt:
- Hüfte: 40 grd.
- Knie: 70 grd. (67 - 137 grd.)
- Fuß : 38 grad. (108 - 146 gr.)
Für die Beinkrafteinleitung in den Tretantrieb zum Erreichen von hohen Leistungen halten schon die Fahrradexperten vor 120 Jahren eine feste Verbindung zwischen Fuß und Pedal für notwendig.
Seine Umfangreichen Betrachtungen unter Hinzuziehung von Kraftvektoren, finden ihren Ausdruck in der nebenstehenden Grafik. Die Zugkraft wird in der Grafik zur Druckkraft addiert. Das Auftragen in der zweiten Hälfte des Kreises wäre deutlicher.
Wesentliche Unterschied zum Aufrechtrad ist der waagerechte Tritt mit den Totpunkten des Kurbeltriebes vorne und hinten. Dieser ermöglicht es dem geübten Liegeradfahrer eine Entspannungsphase im Bereich des vorderen Totpunktes bei jeder Kurbelumdrehung einzufügen.
Auch hier lässt sich das von Schieferdecker vor mehr als 120 Jahren Niedergeschriebene weitgehend auf das Liegerad übertragen, wenn die Abbildung, oben, um 90 Grad gedreht wird. Insbesondere die richtige Stellung und Bewegung der Füße ist durch ein spürbar leichteres und angenehmeres Treten direkt erfahrbar.
Die Abflachung im oberen Teil der Rennpedalkurve D, könnte durch einen „Rock´n Roll-Kick noch reduziert werden. Beim Liegerad trägt eine feste Verbindung zwischen Fuß und Pedal wesentlich zur passiven Sicherheit bei. Nur wenn die Füße bei einem „Ausrutscher“ auf den Pedalen bleiben, sind die Beinen vor schwereren Verletzungen geschützt. Der Versuch einen Sturz mit dem Bein abzufangen hat schon mehrfach in einem offenen Unterschenkelbruch geendet.
3. Der Komfort und die Biodynamik
Der Liegeradsitz und der Liegeradlenker ermöglichen, wenn richtig gewählt und positioniert, während der Fahrt die Arm- und Oberkörpermuskulatur weitgehend zu entspannen. Dabei ist es relativ egal, ob man die Arme „hängen“ lässt oder locker auf den Obenlenker legt. Mit dem Untenlenker vergrößert sich die Stirnfläche um bis zu 30% und lässt diese Lenkerposition eher zur Lösung für ruhige Liegeradler werden.
Da der Liegeradfahrer relativ waagerecht auf dem Liegerad liegt ist der Höhenunterschied zwischen der zu versorgenden Beinmuskulatur und dem Herz-Kreislaufsystem erheblich geringer als beim Aufrechtrad. Damit wird nur eine verringerte Pumpleistung des Herzens für die Beinmuskulatur, bei den in der Tabelle oben erwähnten Leistungen, benötigt.
Die Gestreckte Haltung des Körpers ermöglicht es dem Zwerchfell einen größeren Anteil zum Luftdurchsatz der Lunge zu erbringen. Außerdem liegen in den großen Höhlen des Rumpfes, in der Brust- und Bauchhöhlen, die Eingeweiden. In der Brusthöhle befinden sich Lunge und Herz, in der Bauchhöhle Magen, Darm, Leber, Milz und Nieren. Alle diese Organe funktionieren am besten bei gestreckter Körperhaltung.
Je mehr der Rumpf nach vorne übergebeugt wird, um so mehr wird der Raum der Höhlen verengt, um so mehr werden die Eingeweiden gedrückt, zusammengepresst und in ihrer Tätigkeit behindert.
Bei der Einatmung findet eine allseitige Ausdehnung der Lunge statt. Durch die getreckte Lage des Fahrers auf dem Liegerad können alle Funktionen der inneren Organe Ideal ablaufen. Insbesondere die Lunge wird durch die uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit des Zwerchfells und der Schulterheber an das Maximum gebracht. Damit kann die Lunge das Blut optimal mit Sauerstoff versorgen.
Somit trägt der Komfort dazu bei, das Leistungspotenzial der Beinmuskulatur über längere Zeit aufrecht zu erhalten.
4. Die Sicherheit
Diese ist teilbar in passive Sicherheit und aktive Sicherheit. Leider gibt es keine empirisch fundierten Untersuchungen zum Unfallverhalten von Liegerädern.
Professor Wilson hat ca. 1972 eine Auswertung von schweren Fahrradunfällen in den USA vorgenommen. Das Ergebnis führte zur Entwicklung eines Liegerades am „MIT“.
Das Liegerad, der „Avator“, wurde dort als wesentliche, technische Antwort auf viele schwere Kopfverletzungen, entwickelt.
Erfahrungswerte aus verschiedenen Internet-Liegeradforen und eigene Erfahrungen zeigen folgende Unfalleigenschaften bezüglich der passiven Sicherheit. Die Beine und der vordere Rahmenbereich dienen als Knautschzone. Abgesehen davon sind Stürze über den Lenker praktisch unbekannt. Außerdem ist der Kopf mittig über dem Fahrzeug und damit besser geschützt.
Also landet man bei einem Sturz auf dem Gesäß. Zur aktiven Sicherheit lässt sich sagen, dass man mit „normalen“ Liegerädern (also nicht den ausgesprochen tiefen und sportlichen Fahrzeugen) der Liegeradfahrer auf gleicher Augenhöhe wie der Autofahrer ist.
Weiterhin führt der tiefere Schwerpunkt zu erheblich höheren Bremsleistungen (bis zu 50%).
Das Stürze für das Liegerad über den Lenker praktisch nicht möglich sind und das diese die höhere Bremsleistung haben, kann mindestens theoretisch physikalisch aufgezeigt werden.
Den Überschlag über den Lenker mit einem Aufrechtrad setzt ein bei einer Verzögerung von 6 Meter pro Sekunde im Quadrat ein. Physikalisch möglich sind bis zu 9 Meter pro Sekunde im Quadrat, die mit dem Liegerad zu erreichen sind.
Ein weiterer Aspekt ist die größere Ausweichgeschwindigkeit von Liegezweirädern. Diese wird ermöglicht durch die deutlich niedrigere Schwerpunktlage. Damit ermöglicht die Lenkung des Liegerades ein deutlich erhöhtes Reaktionsvermögen für Ausweichmanövern.
Dieser niedrigere Schwerpunkt erfordert eine etwas erhöhte Leistung von unserem Gleichgewichtszentrum im Gehirn. Als angenehmer Nebeneffekt, wird damit auch die Aktivierung des Zentrum für Glückshormone im Gehirn bewirkt, da es in der unmittelbaren Nachbarschaft des Gleichgewichtszentrum liegt.
Zur Autorin:
Sara Bleckmann ist von kleinauf mit Karts, Trikes und Lieferädern vertraut. Als Tochter von Ing. Bernd Beckmann ist es auch einfach unmöglich, der gesamte radtechnische Thematik inklusive Renntechniken und dem Training nicht einzuatmen.
Als Kind kurz nach dem Laufenlernen mit einem KMX-Kart gestartet, fährt sie heute ein modifizertes FLUX S900, mit dem sie selbstredend viele KM unter unterschiedlichsten Bedingungen beradelt hat.
Quellen:
Buch „Fahrradkultur 1 - Der Höhepunkt um 1900“ von Hans-Erhard Lessing (Hg.), veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, Oktober 1982, HPV Deutschland e.V. WHO Vortrag in Bonn von Christoph Hipp, 2005, Liegeradstudio, Bernd Bleckmann Muskelbeanspruchung beim Liegeradfahren
© 2021 - Sara Bleckmann, Hamburg